Auslöser für meine intensive Beschäftigung mit Stacheldraht war eine Bemerkung eines Nachbarn, der mir riet, Stacheldraht an meinem Gartenzaun anzubringen, damit die Jugendlichen vom benachbarten Sportplatz nicht mehr über den Zaun klettern und ihn dabei demolieren könnten, wenn sie ihren Fußball aus meinem Garten holen wollten.

Meine spontane Entscheidung war, dass ich das auf keinen Fall tun würde. Und dann habe ich angefangen zu überlegen, warum. Erinnerungen an Kindheitserlebnisse mit Winkelhaken in den Hosen kamen auf, Folgen vom eigene Überklettern von Stacheldrahtzäunen, damals wie heute eingesetzt, um Kühe davon abzuhalten, ihre Weide zu verlassen. Im Winter waren keine Kühe auf den Weiden, sondern Schnee zum Schlittenfahren. Also nichts wie rüber über den Zaun, manchmal eben mit unangenehmen Folgen. Stacheldraht an den Rändern von Skipisten haben mich mein ganzes Leben lang begleitet – er ist nach wie vor höchst effektiv (in Verdun hat er schon 100 Jahre überdauert und ist verrostet, aber immer noch stabil) und daher weit verbreitet: an Absperrungen, Barrieren, Gefängnissen, Grenzen, mittlerweile als rasierklingenscharfer NATO-Draht perfide verfeinert.

Andererseits übt er eine Faszination auf mich aus, weil es eine unglaubliche Vielfalt von Einzelformen vor allem an älteren Zäunen gibt: Nahezu jedes Segment sieht anders aus, verändert durch Rost, aber auch in unzähligen Varianten durch Berührung verbogen und verformt.
Von Nahem betrachtet entpuppt sich ein Stacheldrahtzaun daher nicht nur als furchtbar, bedrohlich und gefährlich, sondern auch als spannende und formal höchst differenzierte Aneinanderreihung von abwechslungsreichen Kleinstplastiken. Diese extreme Ambivalenz hat mich gereizt, mich intensiv mit der Darstellung dieser kleinen plastischen Gebilde zu beschäftigen und sie in ihrer Bedrohlichkeit, aber auch in ihrer skulpturalen Qualität festzuhalten.

Volker Beindorf, 2019